2019: 13 vorsätzliche Tötungsdelikte im Kreis Soest

7. März 2020

KREIS SOEST. Wie sicher leben die Menschen im Kreis Soest? Die Meinung der Kreispolizeibehörde dazu ist eindeutig: Hier lebt es sich sicherer als in vielen anderen Städten und Gemeinden in Nordrhein Westfalen. Und die in den vergangenen Tagen präsentierten statistischen Daten zu Verkehrsunfällen und Straftaten für das vergangene Jahr 2019 bestätigen dies zum Großteil. Andererseits weisen die Zahlen bei genauerer Betrachtung in wesentlichen Bereichen auch Lücken auf und ergeben teilweise ein recht widersprüchliches Bild der tatsächlichen Lage, wenn man weitere Fakten betrachtet. – Die Redaktion unseres lokalen Nachrichten-Portals „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ hat die Werte mal genauer analysiert und manches kritisch hinterfragt und selbst nachrecherchiert. Den Fokus richten wir dabei neben der kreisweiten Entwicklung insbesondere auf den Zuständigkeitsbereich der Polizei-Wache Werl und natürlich die Gemeinde Wickede (Ruhr). Unsere Erkenntnisse präsentieren wir in einer Serie mit verschiedenen Schwerpunkt-Beiträgen.

Polizeidirektor Jochen Brauneck und der schriftliche Jahresbericht 2019 der Kreispolizeibehörde Soest vermeldeten am 2. März 2020 stolz, dass die Zahl der Straftaten in der Region dank erfolgreicher Polizeiarbeit von 2017 bis 2019 von rund 18.000 kontinuierlich auf unter 16.000 Fälle pro Jahr gesunken sei.

Dabei handelt es sich allerdings „nur“ um die förmlich bei der Polizei „angezeigten“ und somit bekanntgewordenen Straftaten.

Weitere verübte Delikte tauchen nicht in der „Polizeilichen Kriminalstatistik“ auf. Dazu gehören beispielsweise Straftaten, die direkt bei der Staatsanwaltschaft und nicht bei der Polizei angezeigt wurden. Dieser Anteil ist allerdings äußerst gering und fällt statistisch vermutlich kaum ins Gewicht.

Bürger zeigen Bagatelldelikte teilweise nicht mehr an – Polizei rät trotzdem dazu

Auf journalistische Nachfrage erklärte Kriminaloberrat Benjamin Aufdemkamp als zuständiger Leiter der Kriminalpolizei zudem jüngst, dass es durchaus sein könne, dass Bürger einige Delikte wie kleinere Diebstähle und Sachbeschädigungen inzwischen gar nicht mehr zur Anzeige brächten, wenngleich die Polizei immer dazu rate.

Einer der Gründe: Die Bürokratie der Strafverfolgungsbehörden sei vielen Bürgern zeitlich zu aufwändig, zumal die Chance der Ermittlung der Täter ohne Zeugen in einigen Bereichen erfahrungsgemäß sehr gering sei.

Geschädigte und Zeugen mit Zivilcourage werden in solchen Fällen durch den hohen zeitlichen Aufwand bei der Protokollierung des Sachverhaltes und ihrer Personalien eher selbst noch „bestraft“. Denn vor allem bei Bagatelldelikten mit Sach- und ohne Personenschäden ist die Aufklärungsquote recht dürftig.

Aufklärungsquote der Kreispolizeibehörde Soest über dem NRW-Landesdurchschnitt

So liegt die Aufklärungsquote der Kreispolizeibehörde Soest zwar insgesamt bei 59 Prozent und damit sogar fünf Prozent über dem Landesdurchschnitt, bei den knapp 300 Taschendiebstählen (7 Prozent) und 1.100 Fahrraddiebstählen (11 Prozent) im Jahre 2019 ist sie aber weiterhin verschwindend gering.

Auch bei den 177 Diebstählen aus Dienst- und Geschäftsräumen sowie 288 Wohnungseinbruchsdiebstählen des vergangenen Kalenderjahres wurde nur bei zirka 20 Prozent der angezeigten Delikte ein mutmaßlicher Täter ermittelt.

Und dies heißt noch lange nicht, dass gegen diese Beschuldigten seitens der Staatsanwaltschaft schlussendlich Anklage erhoben wurde und diese danach rechtskräftig verurteilt wurden.

Zudem dürfte die vermeintlich hohe Aufklärungsrate bei weitem nicht nur das Verdienst engagierter Ermittlungsarbeit der Polizei sein, sondern sicherlich vielfach auch aufmerksamen Bürgern zu verdanken sein, die bei Beobachtungen von möglichen Straftaten schnell den Notruf 110 der Polizei telefonisch informieren oder sich als Zeugen zur Verfügung stellen. Im ländlichen Raum profitiert die Polizei hiervon sicherlich wesentlich mehr als in anonymeren Metropolen, wo sich die Menschen weniger kennen und um einander kümmen und die Nachbarschaft weniger wachsam ist.

Straftaten gelten auch als „aufgeklärt“, obwohl die Beschuldigten nie angeklagt werden

Als „aufgeklärt“ gelten auch Taten, bei denen die Staatsanwaltschaft das weitere Verfahren gegen einen polizeilich Beschuldigten mangels Beweisbarkeit nach Ansicht der Staatsanwaltschaft  oder aus anderen Gründen mit oder ohne eine Geldbuße einstellt und kein weiterer möglicher Täter ermittelt wird.

Wie viele Straftäter von der Polizei ermittelt und dann wirklich von den für den Kreis Soest zuständigen Staatanwaltschaften Arnsberg und Paderborn im Jahre 2019 als schuldig befunden, angeklagt und rechtskräftig verurteilt wurden, ließ sich auf Grund des nicht deckungsgleichen Zuständigkeitsgebietes dieser Strafverfolgungsbehörden und der Gerichtsbezirke mit der Kreispolizeibehörde Soest leider nicht recherchieren.

So liegt der Amtsgerichtsbezirk Lippstadt mit Anröchte, Geseke und Erwitte beispielsweise in der Verantwortung der Staatsanwaltschaft und des Landgerichtes Paderborn, während die übrigen zehn Städte und Gemeinden des Kreises Soest zum Landgerichtsbezirk Arnsberg gehören.

Polizeibeamte machen sich Strafvereitelung im Amt schuldig, wenn sie Anzeigen nicht aufnehmen

Doch zurück zu der Frage, warum längst nicht alle Straftaten von Geschädigten oder Zeugen angezeigt werden.

Ein weiterer Grund ist, dass selbst Polizeibeamte immer wieder von der Erstattung von Strafanzeigen direkt oder indirekt abraten, indem sie deutlich machen, dass in bestimmten Fällen die Aussicht auf eine Ermittlung und Bestrafung der Täter fast aussichtslos ist. – Ob dies nun aus Bequemlichkeit einzelner Beamter oder aus Frust der Ermittler angesichts der teils deprimierenden Situation im Bereich der Strafverfolgung geschieht, mag dahingestellt sein.

Fakt ist übrigens, dass sich Polizisten schnell der Strafvereitelung im Amt schuldig machen, wenn sie trotz des Willens eines Geschädigten oder eines Zeugen eine Strafanzeige nicht ordnungsgemäß aufnehmen und an die zuständige Staatsanwaltschaft zur rechtlichen Beurteilung weiterleiten. Denn nur diese darf über die Ablehnung einer Strafanzeige oder die Einstellung eines Verfahrens entscheiden. Die Polizei hingegen ist gesetzlich zur Aufnahme einer Strafanzeige verpflichtet und kann dies normal nicht ablehnen. – Unserer Redaktion werden aber immer wieder Fälle geschildert, wo dies so geschehen sein soll.

Anzeige von Ladendieben kostet Geschäftsleute häufig viel Zeit und bleibt dann erfolglos

Warum Straftaten nicht zur Anzeige gebracht werden, kann aber auch andere Gründe haben: Selbst ein gefasster Ladendieb verursacht beispielsweise für Inhaber und Personal im Einzelhandel häufig schon einen mehrstündigen Arbeitsaufwand durch Zeugenaussagen bei Polizei und vor Gericht, sofern die Überführten überhaupt dort zur Rechenschaft gezogen werden. Denn allzu häufig stellen die Staatsanwaltschaften oder Richter die Verfahren auf Grund von Geringfügigkeit oder eines mangelnden öffentlichen Interesses vor oder im Rahmen einer Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ein.

Dann bleibt Geschädigten häufig nur der risikoreiche Zivilprozess, für dessen Kosten sie allerdings selbst aufkommen müssen und sogar noch zur Kasse gebeten werden, wenn ein rechtskräftig verurteilter Straftäter nicht liquide ist.

Neben dem „Hellfeld“ der registrierten Straftaten gibt es ein großes „Dunkelfeld“ an Delikten

Wie aussagekräftig die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ für die tatsächlich verübten Straftaten ist, sei also dahingestellt.

Zumal die Polizei selbst zugibt, dass es neben dem sogenannten „Hellfeld“ der registrierten Straftaten ein großes „Dunkelfeld“ an Delikten gibt, die ihr nicht bekannt werden. Vor allem versuchte und nicht vollendete Straftaten bleiben häufig in der Statistik unberücksichtigt. Denn bei weitem nicht jede Hebelmarke eines Einbruchversuchs wird von den Eigentümern überhaupt entdeckt oder angezeigt.

Und in der statistischen Erfassung der Drogenkriminalität handelt es sich zumeist um sogenannte „Kontrolldelikte“, die kaum von Betroffenen und ihrem Umfeld angezeigt werden, sondern nur bei gezielten polizeilichen Kontrollen oder im Rahmen anderer Ermittlungen entdeckt werden. Dies gilt sowohl für den illegalen Besitz als auch den Handel mit Betäubungsmitteln (Drogen/Rauschgift).

Hinzu kommen Straftaten, die von Bundespolizei, Finanzämtern oder Zoll bearbeitet werden, und somit ebenfalls nicht in der Kriminalstatistik der Kreispolizeibehörde Soest erfasst werden.

„Polizeiliche Kriminalstatistik“ erfasst bei weitem nicht alle verübten Straftaten

Will sagen: die „Polizeiliche Kriminalstatistik“ gaukelt dem unbedarften Laien vor, dass hier alle Straftaten aus dem Kreis Soest sichtbar würden. Dem ist aber mitnichten so. Und die Aufklärungsquote zeigt nur an, dass in diesen Fällen mögliche Verdächtige ermittelt wurden. Dabei kann es sich aber auch um Unschuldige handeln.

Fraglich bleibt zudem, wie viele der Beschuldigten schlussendlich überhaupt rechtskräftig verurteilt und für ihre Taten wirklich bestraft werden.

Kapitalverbrechen fehlen in der Kriminalitätsstatistik der Kreispolizeibehörde Soest

Dass der Jahresbericht der Polizei an einigen Stellen mehr Schein als Sein ist, wird ebenso daran deutlich, dass Kapitalstrafsachen (Verbrechen) wie Mord und Totschlag sowie Brandstiftung, Körperverletzung oder Raub mit Todesfolge, Tötung auf Verlangen, fahrlässige Tötung und so weiter überhaupt keine Erwähnung finden.

Nun könnte der geneigte Leser sich freuen und vermuten, dass es doch schön ist, dass es im Kreis Soest im Jahre 2019 scheinbar keine solchen vorsätzlichen Tötungsdelikte und keine weiteren schlimmen Verbrechen gab. Doch dem ist mitnichten so.

Besonders schwere Straftaten finden im Jahresbericht 2019 gar keine Erwähnung

Wie Kriminalhauptkommissar Holger Rehbock, ehedem Kripo-Chef in Werl und seit geraumer Zeit bereits Pressesprecher der Kreispolizeibehörde Soest, auf Anfrage von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ mitteilte, finden besonders schwere Straftaten wie die Delikte, die gegen das Leben anderer Menschen gerichtet sind, gar keine Publizität im jüngsten Jahresbericht der Kreispolizeibehörde Soest. Und dies, obwohl gerade diese von großem öffentlichen Interesse sein dürften. In den Berichten benachbarter Landratsbehörden und Polizeipräsidien ist dies übrigens anders.

Der angebliche Grund für die mangelnde Erwähnung: Diese Delikte werden vom übergeordneten Polizeipräsidium Dortmund als zuständiger Kriminalhauptstelle bearbeitet.

Interessant an dieser Stelle: Andere Kreispolizeibehörden benennen solch schwere Straftaten durchaus im Rahmen ihrer jeweiligen Präsentationen der „Polizeilichen Kriminalstatistik“.

Zahl der „vorsätzlichen Tötungen“ hat sich im Kreis Soest im Vergleich zum Vorjahr mehr als vervierfacht

Besonders pikant: Die Zahl der „vorsätzlichen Tötungen“ hat sich 2019 im Kreis Soest im Vergleich zum Vorjahr mehr als vervierfacht (!). Gab es 2018 „nur“ drei Delikte dieser Art in der Region, waren es im vergangenen Kalenderjahr 13 Straftaten gegen das Leben. – Dies ist der negativste Wert der vergangenen zehn Jahre.

Insgesamt gab es binnen dieses Zeitraumes übrigens 66 vollendete und versuchte vorsätzliche Tötungen im Kreis Soest. – Die Zahl des Jahres 2019 liegt damit fast beim Doppelten des Zehn-Jahres-Durchschnitts.

Da mag es eine geringe Beruhigung sein, dass es nur zu einem vollendeten Totschlag kam und die restlichen 12 Tötungsdelikte im Kreis Soest im Jahre 2019 allesamt nicht vollendet wurden.

Erpressungen, Wirtschaftsstraftaten, Geldwäsche-Delikte und Drogen-Herstellung nicht publik gemacht

Auch andere schwerere Straftaten wie 64 (2018: 23) Erpressungen, 28 (24) Wirtschaftsstraftaten und 16 (21) Geldwäsche-Delikte sowie die illegale Herstellung von Betäubungsmitteln (Drogen/Rauschgift) in 2 Fällen (2018: 10) im Raum Soest wurden im Jahresbericht der Kreispolizeibehörde angeblich nur deshalb nicht erwähnt, da diese Fälle vom Polizeipräsidium Dortmund verfolgt wurden. – Wie gesagt: Andere Polizeipräsidien und Landratsbehörden veröffentlichen in ihren Jahresberichten sehr wohl schwere Straftaten wie Mord und Totschlag in ihrer Region.

Das Risiko der Bewohner im Kreis Soest selbst ein Opfer einer Straftat zu werden

Im Vergleich zu kriminellen Großstädten wie Dortmund ist für die Bewohner des Kreises Soest das Risiko das Opfer einer Straftat zu werden wesentlich geringer.

Die Aussage der Polizeiführung, dass der Kreis Soest zu einem der sichersten Kreise im Lande Nordrhein-Westfalen gehöre, ist nach der Statistik für 2019 allerdings so nicht ganz richtig.

Dies wird alleine durch den Vergleich der sogenannten „Kriminalitätshäufigkeitszahlen“ mit den Nachbarkreisen und der angrenzenden Stadt Hamm deutlich. Hier liegt der Kreis Soest mit der Kriminalitätshäufigkeit von 5.295 Straftaten pro 100.000 Einwohner im Jahre 2019 direkt hinter den Nachbarregionen Hamm (7.588) und Unna (5.534). Dagegen lebt es sich in den ebenfalls an den Raum Soest angrenzendem Märkischen Kreis (5.117), Kreis Paderborn (5.014), Hochsauerlandkreis (4.799), Kreis Warendorf (4.486) und Kreis Gütersloh (4.394) durchaus noch etwas sicherer als hier.

Die von Straftaten am wenigsten belasteten Regionen in Nordrhein-Westfalen sind übrigens der  Kreis Lippe (3.777) sowie der Bergische Kreis (3.944) und der Rheinisch-Bergische Kreis (3.999).

Dagegen ist in Großstädten wie Dortmund, Düsseldorf und Köln die Kriminalität fast doppelt so hoch wie im Kreis Soest, der mit 5.295 Straftaten pro 100.000 Einwohner im vergangenen Jahr 2019 allerdings erheblich unter dem NRW-Landesdurchschnitt (6. 847 Taten) lag.

ANDREAS DUNKER für „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“


ANMERKUNG DER REDAKTION: In unserer kritischen Berichterstattung geht es nicht darum die Polizei als Ganzes oder die große Mehrheit der engagierten und gesetzestreuen Beamten zu diskreditieren und ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit zu schaden. Vielmehr verstehen wir unsere konstruktive Kritik als externe Unterstützung, um die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden zu optimieren und das in sie gesetzte Vertrauen dauerhaft zu stärken. Denn in einem demokratischen Rechtsstaat ist es die Aufgabe und Pflicht der Medien und Journalisten die staatliche Macht kritisch zu beobachten, ihre gesetzmäßige Arbeit zu kontrollieren und über Missstände offen zu berichten.


Weitere Beiträge zu Kriminalität und Verkehrsunfällen sowie Sicherheit im Kreis Soest folgen in den nächsten Tagen!

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Präsentierten den Jahresbericht der Kreispolizeibehörde Soest mit der regionalen Kriminalitätsstatistik für das vergangenen Jahr 2019 (von links): Kriminalhauptkommissar Holger Rehbock als Pressesprecher, Polizeidirektor Jochen Brauneck als Behördenleiter und Kriminalrat Benjamin Aufdemkamp als Chef der Kriminalpolizei (Kripo) FOTO: ANDREAS DUNKER
Präsentierten den Jahresbericht der Kreispolizeibehörde Soest mit der regionalen Kriminalitätsstatistik für das vergangenen Jahr 2019 (von links): Kriminalhauptkommissar Holger Rehbock als Pressesprecher, Polizeidirektor Jochen Brauneck als Behördenleiter und Kriminalrat Benjamin Aufdemkamp als Chef der Kriminalpolizei (Kripo) FOTO: ANDREAS DUNKER