Voßwinkel: Zwei Erwachsene und ein Kind ermordet

13. November 2021

ARNSBERG-VOSSWINKEL. „Mord und Zwangssterilisationen hat es in der Zeit des Nationalsozialismus' nicht nur in größeren Städten, sondern auch im ländlichen Sauerland gegeben“, weiß Heimathistoriker Michael Filthaut. Denn auch seine Familie und sein Wohnort Voßwinkel waren davon betroffen. Und diese Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die im Rahmen der „Euthanasie“ ermordet wurden oder denen durch Zwangssterilisation großes Leid zugefügt wurde, blieben beim Gedenken an die Opfer des damaligen Terror-Regimes meistens vergessen. Deshalb erinnert der Voßwinkler „Arbeitskreis Dorfgeschichte“ am morgigen Volkstrauertag (14. November 2021) im Rahmen einer Vortragsveranstaltung unter dem Titel „Krieg gegen das eigene Volk“ an diese Menschen.

Filthaut: „Traditionell wird am Volkstrauertag zwar der Opfer von Krieg und Gewalt gedacht. Doch geht es dabei in erster Linie um gefallene und vermisste Soldaten und um die zivilen Opfer der beiden Weltkriege.“

Doch der „Arbeitskreis Dorfgeschichte“ in Voßwinkel arbeite seit dem letzten Jahr an einem Forschungsprojekt, bei dem es auch um diese vergessenen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gehe. Durch die Übergabe der „Euthanasie-Akte“ durch Angehörige einer betroffenen Familie hätten sich Ansatzpunkte für umfangreiche Recherchen gefunden.

Menschenverachtende Verbrechen der Nationalsozialisten

Die Heimatforscher seien infolgedessen erstaunt gewesen, wie viele Familien im Ort von den wahnsinnigen Vorstellungen der Nationalsozialisten zur vermeintlichen „Erbgesundheit“ und „Rassenhygiene“ betroffen gewesen seien. In vielen Familien sei das Thema lange Zeit offenbar tabu gewesen, da die Angehörigen von den schrecklichen Schicksalsschlägen traumatisiert gewesen seien.

Obwohl Recherchen in Archiven bedingt durch die Corona-Virus-Pandemie nur eingeschränkt möglich gewesen seien, gäben die ausgewerteten Unterlagen inzwischen Aufschluss über das menschenverachtende Vorgehen der Nationalsozialisten, so Filthaut.

„Durch die Dokumente kann belegt werden, dass zwei Erwachsene und ein Kind aus dem Dorf Voßwinkel ermordet wurden", berichtet der Heimatforscher. Zudem seien mehrere Zwangssterilisationen in dem kleinen Ort belegt. – Mehr als 70 Akten des Arnsberger „Erbgesundheitsgerichtes“ mit Bezug zu Voßwinkel seien im nordrhein-westfälischen Staatsarchiv in Münster erhalten, weiß Filthaut.

Die Umsetzung der „Erbgesundheitslehre“ und „Rassenhygiene“ spielten in der Zeit zwischen 1933 und 1945 eine zentrale Rolle. Das „Rassenpolitische Amt“ der Nationalsozialisten sorgte für die Propaganda, Gesundheitsämter erstellten „Sippentafeln“ und „Erbgesundheitsgerichte“ entschieden, welche Menschen für den Staat „brauchbar“ waren.

Alleine zwischen 1940 und 1941 zirka 70.000 Menschen ermordet

In einer Abteilung der Kanzlei des Reichsführers Adolf Hitler sei die Ermordung behinderter, kranker und anderer vermeintlich „lebensunwerter“ Menschen geplant worden. In zunächst sechs Tötungsanstalten habe man diese Morde dann umgesetzt. – In der ersten Welle, die unter dem Tarnnamen „Aktion T4“, bekannt sei, seien zwischen 1940 und 1941 zirka 70.000 Menschen ermordet worden.

Bei den 30.000 Akten zu dieser Tötungsaktion, die nicht vernichtet wurden, befinden sich auch die von zwei Voßwinkeler Opfer. In den umfangreichen Unterlagen ist dokumentiert, wie die Kranken in den Tod geschickt wurden und wie die Angehörigen durch das Ausstellen falscher Urkunden getäuscht wurden.

Das bisherige Ergebnis der Recherchen, mit der die Organisation der Morde und der Ablauf der Sterilisationsverfahren aufgezeigt werden kann, stellt der „Arbeitskreis Dorfgeschichte“ am morgigen Volkstrauertag um 16.30 Uhr im katholischen Pfarrheim in Voßwinkel vor. Referent ist Michael Filthaut, dessen Familie selbst von einem „Euthanasiefall“ betroffen ist und der sich aus historischem Interesse mit dem Thema intensiv befasst hat. Er kann anhand der Dokumente aus verschiedenen Archiven aufzeigen, wie die nationalsozialistische Politik aus der Reichshauptstadt Berlin auch im ländlichen Raum mit aller Härte umgesetzt wurde und wie hart es einige Familien im Sauerland getroffen hat.

Auswirkungen der NS-Diktatur auf ein kleines Dorf im Sauerland

„Schwerpunkt unseres Projektes ist, die Auswirkungen der NS-Diktatur auf ein kleines Dorf insgesamt aufzuzeigen“, betont Filthaut. „Bei diesem Vortrag geht es erst mal nur um die Auswirkungen der Rassegesetze. Mit den weiteren Themen, wie beispielsweise der Opfer der NS-Justiz, werden wir uns an anderer Stelle beschäftigen.“

Da die morgige Veranstaltung unter dem Titel „Krieg gegen das eigene Volk“ großen Zuspruch gefunden hat, ist sie bereits ausgebucht und ein spontaner Besuch nicht mehr möglich. Allerdings soll der Vortrag am Sonntag, 30. Januar 2022, um 16.30 Uhr noch einmal wiederholt werden. Diese Veranstaltung findet ebenfalls im katholischen Pfarrheim an der Voßwinkeler Straße 18 in Arnsberg-Voßwinkel statt. Auch dabei gilt die 3-G-Regel. Zudem wird um Anmeldung unter der Telefonnummer (0 29 32) 71 21 oder unter der E-Mail-Adresse info@dorfgeschichte-vosswinkel.de gebeten.

ANDREAS DUNKER für "wickede.ruhr HEIMAT ONLINE"

Zahlen · Daten · Fakten

In der Zeit zwischen 1934 und 1945 ließen die Nationalsozialisten insgesamt rund 400.000 Zwangssterilisationen nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ durchführen. Infolge der Eingriffe sind 5.000 Menschen verstorben.

Vom Erbgesundheitsgericht Arnsberg (Bezirk des Landgerichts) wurden mehr als 2.100 Menschen zur Unfruchtbarmachung verurteilt.

768 Patienten der Provinzialheilanstalt Warstein wurden zwangssterilisiert (381 Frauen und 387 Männer).

Allein aus der Provinzialheilanstalt Warstein wurden in 15 Transporten etwa 1.575 Menschen „verlegt“.

Die dezentrale „Euthanasie“ (Aktion Brandt) kostete über 100.000 Menschen das Leben, darunter etwa 10.000 Kinder. Von einem Kind aus Voßwinkel liegt die Akte vor.

1940 und 1941 wurden durch die zentral gesteuerte „Euthanasie“ (Aktion T4) zur „Vernichtung unwerten Lebens“ zirka 70.000 Menschen in sechs Tötungsanstalten ermordet. Davon sind zwei Fälle aus Voßwinkel dokumentiert.

STICHWORT: Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel

Der Arbeitskreis Dorfgeschichte Voßwinkel wurde 1993 gegründet. Die Vereinsmitglieder haben sich zur Aufgabe gemacht, die Heimathistorie des kleinen Ortes am Rande des Sauerlandes zu erforschen und zu dokumentieren sowie alte Bilder und Unterlagen zu sammeln und zu erhalten.

In der seit 2008 zweimal jährlich erscheinenden Publikation „Voßwinkeler Rückblicke“ veröffentlicht der Arbeitskreis regelmäßig heimatkundliche Themen-Beiträge zur Dorfgeschichte.

Der Jahresbeitrag für ein Abonnement kostet 6 Euro.

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Die Voßwinkler Heimatforscher Michael Filthaut (links) und Michael Rademacher (rechts) präsentieren das Plakat zum Vortrag „Krieg gegen das eigene Volk“ des „Arbeitskreises Dorfgeschichte“. FOTO: ANDREAS DUNKER
Die Voßwinkler Heimatforscher Michael Filthaut (links) und Michael Rademacher (rechts) präsentieren das Plakat zum Vortrag „Krieg gegen das eigene Volk“ des „Arbeitskreises Dorfgeschichte“. FOTO: ANDREAS DUNKER