Beim Böller-Brauchtum gibt es Befürworter und Gegner

14. Juli 2015

UPDATE VOM 28. JULI 2015: WICKEDE (RUHR). „Zugabe! Zugabe!“ grölt eine – offenbar alkoholisierte – Gruppe junger Männer nach dem lauten Knall der kleinen Kanone. – „Könnt Ihr das nicht mal abschaffen?“ fragt eine ältere Passantin den Kanonier Konrad Deipenbrock und zeigt wenig Verständnis für die Böllerei der Schützenbruderschaft St. Johannes Wickede – Wiehagen. – Und im sozialen Netzwerk „Facebook“ postet jemand auf die offene Frage „Was haltet Ihr vom Böllern …?“ ganz „nüchtern“: „Knallt halt!“

Die Meinungen zum „Böllern“ sind konträr. Schnell kommt es bei der Diskussion zur starken Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern der Knallerei.

Diskussion um Böllerei birgt Zündstoff in sich

Ein strittiges Thema war die „Böllerei“ auch schon bei Schützenfesten in der Vergangenheit. An diesem Wochenende wurde es aber vielfach mit Blick auf den tragischen Unfall in Marsberg neu diskutiert und barg noch mehr „Zündstoff“ in sich als bislang.

Wie „explosiv“ die Stimmung bei den Befürwortern des Böllerns ist, wenn Journalisten kritische Fragen zu der umstrittenen Knallerei stellen, zeigte sich am Schützenfest-Montag (13. Juli 2015): Wickedes zweiter Kanonier reagierte äußerst gereizt. Drohte gar, dass man jetzt „zurückschießen“ wolle, nachdem „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ schlicht die offene Frage „Was haltet Ihr vom Böllern …?“ ins Netz gestellt hatte. (In einer schriftlichen Gegendarstellung vom 27. Juli 2015 dementierte Meinolf Heide, dass er das Wort "zurückzuschießen" ausgesprochen habe.)

Im Gegensatz zu seinem Kollegen Konrad Deipenbrock ließ der zweite Kanonier keine Fotos von sich und der Kanone zu, die während der drei Festtage überall durch Wickede und Wiehagen geschleppt wurde. Auf Anfrage von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ wollte er auch keine Sachinformationen zum Böllern geben.

Wickeder Kanone aus anderem Material als die Marsberger

Deipenbrock hingegen war gesprächsbereit. Er erklärte, dass es sich bei dem Material der Wickeder Böller-Kanone um hochwertigen Stahl und keinen Gussstahl wie in Marsberg handele.

Turnusmäßig müsse man die Kanone alle paar Jahre vom Beschussamt in Köln auf die richtige Funktionsfähigkeit hin überprüfen lassen. – Bei dem Amt handelt es sich um eine Betriebsstelle des nordrhein-westfälischen Landesbetriebes für Mess- und Eichwesen.

Deipenbrocks persönliche Ansicht zur Sicherheit der Wickeder Böller-Kanone: „Die hält!“

Erlaubnis bei Volksfesten in der Ruhrgemeinde zu böllern

Übernommen hat Konrad Deipenbrock das Amt des „Böller-Schützen“ von seinem 1973 verstorbenen gleichnamigen Vater.

Während man damals noch ohne entsprechende Ausbildung „böllern“ durfte, musste Konrad Deipenbrock im Jahre 1986 eigens an einem zweitägigen Lehrgang über Pulversprengstoffe mit abschließender Prüfung teilnehmen. Danach erhielt er die amtliche Erlaubnis, bei „Volksfesten innerhalb der Gemeinde Wickede“ zu „böllern“.

Die Abschussvorrichtungen waren damals allerdings noch ganz andere als heute. Unter anderem verwendete man Vorderlader.

1995 gab es auch in Wickede einen Verletzten durch eine Explosion

Trotz der Schulung in Sicherheitsfragen musste Deipenbrock im Jahre 1995 aber Lehrgeld zahlen. Denn damals verletzte er sich während des Böllerns beim Schützenfest durch eine Mörser-Explosion an der eigenen Hand. Die Finger vom „Böllern“ ließ er trotz der schmerzhaften Erfahrung allerdings nicht.

Warum also frönt der Wiehagener weiterhin der Knallerei, wenngleich er dadurch Schaden an der eigenen Gesundheit erlitten hat? – Deipenbrock sagt: „Weil es Tradition ist!“

Seit 1996 wird mit Hinterlader geschossen

Nach dem Unfall von Deipenbrock nahmen die Wickeder Böller-Schützen im Jahre 1996 die heute noch in Gebrauch befindliche Hinterlader-Kanone in Betrieb, die für jeden Knall mit maximal 50 Gramm Schwarzpulver gefüllt und mittels einer Reißleine aus einigem Abstand heraus „gezündet“ wird. (Anmerkung der Redaktion: Aufgrund einer schriftlichen Gegendarstellung vom 27. Juli 2015 von Meinolf Heide haben wir die Menge für die Schwarzpulverladung der Böller-Kanone korrigiert. Die vorheriger Angabe "250 Gramm" war – laut nachträglicher Mitteilung von Meinolf Heide – falsch!)

Bruderschaft lässt sich Knallerei einiges kosten

Rund zehn Kilogramm Schwarzpulver verschieße man pro Schützenfest, so der Böller-Schütze, dem seit etlichen Jahren Meinolf Heide als zweiter Mann zur Seite steht.

Die Kosten für die Beschaffung des Schwarzpulvers zu marktüblichen Preisen sowie Gebühren für technische Prüfungen und behördliche Genehmigungen dürften sich auf einige hundert Euro pro Jahr summieren, haben Recherchen von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ im Internet ergeben.

Wimberner entschieden sich gegen Böllerei

Die Wimberner St.-Johannes-Schützenbruderschaft hat das Böllern jedenfalls nach einem Intermezzo von nur wenigen Jahren wieder abgeschafft.

Eine tief verwurzelte Tradition sei das Salutschießen nie in Wimbern gewesen, so Vorstandsmitglieder gegenüber „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“. Wimberns Brudermeister Gerhard Schulte erklärte dazu: „Ich bin froh, dass wir das nicht mehr machen!“

Tragödie in Marsberg macht "betroffen"

Beim Jahresfest der Schützenbruderschaft St. Vinzentius in Echthausen hingegen hat das Böllern durchaus eine Tradition.

Oberst Stefan Reszel erklärte auf Anfrage von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“, dass man das dreitägige Fest am Samstag mit dem Böllern „einläute“ und auch montags zum Vogelschießen knalle.

Dies erfolge aber nicht mit einer Schwarzpulver-Kanone wie in Marsberg oder Wickede sondern durch ein explodierendes Gasgemisch. – Mit Blick auf Marsberg meint Reszel: „Das macht betroffen!“

Und wenn das Böllern eigentlich auch zum Echthausener Schützenbrauchtum dazugehöre, müsse man trotzdem neu über die Tradition nachdenken. – Reszel: „Ich erschrecke mich auch selbst immer, wenn es unerwartet knallt!“

Reszel erwartet strengere gesetzliche Vorgaben

Ebenso wie viele andere geht Reszel davon aus, dass es nach dem tragischen Todesfall durch die explodierte Böller-Kanone in Marsberg vermutlich in naher Zukunft ohnehin strengere behördliche Reglementierungen bezüglich des Brauchtums geben werde.

Dieses praktiziere auch nur eine Minderheit der Schützenvereine, schätzte ein Sprecher des Sauerländer Schützenbundes (SSB) auf Nachfrage von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ die vermutliche Verbreitung des Böller-Brauchtums in der Region ein.

Immer wieder Beschwerden zur Böllerei in Wickede

In Wickede gab es übrigens in den letzten Jahren immer wieder Beschwerden über das laute Böllern. Vor allem erschien manchem die Nähe der Böller-Kanone zu alkoholisierten Festteilnehmern und unbeteiligten Passanten als sehr bedenklich.

Kritiker fühlen sich nicht ernst genommen

Auf entsprechende Beschwerden von Leuten, die sich durch das laute Knallen belästigt fühlen, reagierte das Böller-Duo bislang allerdings stets abweisend.

Und auch der ehemalige Brudermeister und zuständige Ordnungsamtsmitarbeiter Knut Hornkamp nahm die Böller-Schützen in Schutz. Häufig fühlten sich Kritiker dadurch nicht ernst genommen.

In diesem Jahr kam es am Ruhrufer übrigens dazu, dass aufgrund der Böllerei der Schützen offenbar ein Hund seinem Besitzer weggelaufen ist, wie in Facebook nachzulesen war. Ob der Halter den Hund angeleint hatte, ist nicht bekannt. (Auf Anregung von Meinolf Heide stellen wir an dieser Stelle nochmals klar, dass nicht am Ruhrufer geböllert wurde. – Anm. d. Red.: Offenbar war der Knall allerdings so laut, dass sich das Tier am weit entfernten Flußufer trotzdem noch erschrak.)

Bruderschaftsvorstand sorgt dafür, dass mehr Maß gehalten wird

Jedenfalls sind neben Haus- und Wildtieren, die keine Lobby haben, auch Familien mit Kleinkindern sowie alte und kranke Menschen vielfach in  ihrer Ruhe gestört, da sie durch die Böllerei während des Schützenfestes aus dem Schlaf gerissen werden.

Im Gespräch mit „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ erklärte Wickedes amtierender Brudermeister Thomas Gehrke, dass er im vergangenen Jahr ein „Machtwort“ gesprochen und das Böller-Duo aufgefordert habe, etwas mehr Maß zu halten.

In Marsberg nur zwei Böller-Termine

Während in Wickede an den drei Festtagen fast zu jeder Gelegenheit geböllert wird, erklärte der Marsberger Ordnungsamtsleiter Winfried Salmen am heutigen Dienstag (14. Juli 2015), dass es dort traditionell nur zu Beginn des Schützenfestes ein Anböllern sowie Salutschüsse zur Wandlung während des kirchlichen Festhochamtes am Sonntag gäbe.

Viele sehen Böllern als Teil des Brauchtums

Eine nicht-repräsentative Umfrage von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ hat ergeben, dass viele Wickeder und Wiehagener das Böllern als Teil des Brauchtums der Schützen aber auch befürworten.

Während die einen das Böllern als traditionellen Bestandteil des Schützenwesens verteidigen, sagen die anderen: Dieses Böller-Brauchtum braucht man nicht, weil es zu gefährlich und zu laut ist.

„Es ist schließlich Tradition.“

Die junge Wickederin Johanna Bartmann bringt die konträren Meinungen zu unserer Facebook-Umfrage in einem Beitrag auf den Punkt: „Ich finde es nicht schlimm. Es ist schließlich Tradition. Mein Hund sieht das aber anders ...“

ANDREAS DUNKER für „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE!"

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Böller-Kanone am Schützenfest-Montag vor der Gaststätte Garte in Wickede FOTO: ANDREAS DUNKER
Böller-Kanone am Schützenfest-Montag vor der Gaststätte Garte in Wickede FOTO: ANDREAS DUNKER