Das „Salz in der Suppe“ sein – Exklusiv-Interview mit dem evangelischen Pfarrer Dr. Klein rund um die Reformation

3. November 2017

WICKEDE (RUHR). Am 31. Oktober 2017 jährte sich zum 500. Mal die Veröffentlichung der 95 Thesen, die Martin Luther – der Überlieferung nach – an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug. Dies war die Geburtsstunde der Reformation. – Die Redaktion von „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“ führte anlässlich des Reformationsjubiläums, welches auch von der evangelischen Kirchengemeinde in der Ruhrgemeinde groß gefeiert wurde, ein Interview mit Pfarrer Dr. Christian Klein.

Evangelisch, lutherisch, protestantisch … was sind Sie und ihre Kirchengemeinde in Wickede? Und was ist eigentlich der Unterschied?

Ich selbst bin uniert ordiniert worden und auch die Evangelische Kirchengemeinde Wickede gehört dem unierten Bekenntnis an, wie die Mehrheit der Gemeinden auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche von Westfalen. (Anmerkung der Redaktion: Die evangelische Kirche gliedert sich in lutherisch, reformiert und uniert. Das unierte Bekenntnis ist eine Mischform der lutherischen und der reformierten Tradition, was sich auf Gottesdienstgestaltung und Theologie auswirkt.)


„Am Anfang stand das Wort“ steht als Slogan über dem Jubiläumsjahr 2017. Viele sagen aber, dass die Kirche eigentlich ein „großer Gesangsverein“ sei. Welche Bedeutung haben Gesang und Musik aus ihrer Sicht in der Liturgie, sprich: im evangelischen Gottesdienst?

Martin Luther hat dazu einmal gesagt: „Gott predigt das Evangelium auch durch die Musik.“ Und in einem Brief an Johann Walter schreibt er: „Wenn ich nicht schon Theologus wäre, so würde ich am liebsten Musicus sein.“


Müssen Gottesdienste und andere kirchliche Veranstaltungen in der heutigen Zeit zum „Event“ werden, um genügend Menschen in die Kirche zu locken? – „Der etwas andere Gottesdienst“ in der katholischen Kirchengemeinde vor Ort und auch viele aufwändig gestaltete Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen in der evangelischen Christus-Kirche in Wickede lassen dies vermuten …

Kommt darauf an, was für Sie „genug“ ist. In der Bibel heißt es: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter Ihnen“. Das ist genug.

Für „voll“ jedoch braucht es – wie überall – mehr Anstrengung.


Anders als in den katholischen Kirchenräumen finden sich in der evangelischen Christus-Kirche keine Heiligen- oder Muttergottes-Figuren. Und auch von den Reformatoren Martin Luther, Johannes Calvin oder Philipp Melanchthon sind keine entsprechenden Bildnisse zu sehen. Lediglich hinter dem Altar gibt es ein Wandmosaik. Warum ist dies so?

Evangelische Christen haben Schwierigkeiten mit Heiligen. Nicht als Vorbilder im Glauben aber als Fürsprecher. Zudem ist die Christus-Kirche ein Gebäude aus dem Jahr 1960 – da stand eher eine schlichte und klare Bauweise und Kirchenausstattung im Vordergrund.


Immer mehr Menschen in Deutschland distanzieren sich von Kirche und Religion. Die Zahl der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher der beiden großen christlichen Konfessionen in der Bundesrepublik sinkt. Wie ist die Entwicklung in der evangelischen Kirche in Wickede in dieser Hinsicht? Und welche Konsequenzen hat dies auf Dauer für die evangelische Kirchengemeinde in Wickede?

Die Kirchenmitgliedschaft nimmt stetig ab – auch in Wickede, wobei hier eher der demografische Wandel und der Umzug in die Großstädte den Schwund ausmachen als Kirchenaustritte. Der Rückgang ist nicht so dramatisch, dass man sich kurzfristig Sorgen um die Gemeinde machen müsste. Ich mache mir eher Gedanken um jeden Einzelnen, der austritt.


Wie politisch war der Religionslehrer und Reformator Marthin Luther? Und wie politisch müssen oder dürfen die evangelische Kirche und ihre Pfarrer heute sein?

Wenn politisch „lebensnah“ heißt – dann sehr. Dies war auch Martin Luther. Schließlich entzündete sich die Reformation nicht an einem theoretischen Lehrsatz, sondern am Ablasshandel – genau da, wo es die Menschen trifft!


Was halten Sie von „Kirchenasyl“ – einem Begriff, den es in unserem Gesetz gar nicht gibt? Dürfen sich gläubige Menschen – egal ob Juden, Christen, Muslime oder Hindus – mit ihren religiösen Werten über das demokratische staatliche Rechtssystem stellen? Und verhindern die evangelische Kirche oder einige ihrer Pfarrer durch Taufen von illegalen Zuwanderern bewusst deren Abschiebung nach dem Asylgesetz?

Mir sind keine Taufen von illegalen Zuwanderern bekannt. Nur von Menschen, die wegen religiöser Verfolgung aus ihren Heimatländern fliehen mussten und sich hier – wohl wissend, was das für sie hier und in der Heimat bedeuten kann – taufen lassen. Weil sie es endlich können.


Caritas und Nächstenliebe sind wichtige Eckpfeiler im Christentum. In Wimbern ist eine „Zentrale Unterbringungseinrichtung“ (ZUE) für Flüchtlinge. Was tut die evangelische Gemeinde für die dort lebenden hilfsbedürftigen Menschen und wie engagiert man sich in der kommunalen Flüchtlingshilfe?

Darüber wurde ja schon viel berichtet und würde hier sicherlich den Rahmen sprengen. Es reicht von Betreuung über Sprachkurse bis zum Migrationscafé, das gerade am gestrigen Donnerstag (2. November 2017) eröffnet wurde.


Bei manchen großen Gottesdiensten und kulturellen Veranstaltungen in der evangelischen Kirche in Wickede hat man das Gefühl: Da sind fast mehr katholische als evangelische Christen unter den Gläubigen im Kirchenschiff. Wie schaffen Sie es immer wieder so viele Katholiken mit an Bord zu bekommen?

Wie wir das schaffen, müssen sie die katholischen Christen fragen. So schwer ist es allerdings auch nicht – unsere Tür steht ja allen offen …


Wickede (Ruhr) war und ist für die evangelische Kirche eine Diasporagemeinde, will sagen: die evangelischen Christen sind in der Ruhrgemeinde in der Minderheit. Welche Auswirkungen hat dies für die Kirchengemeinde und für Sie als Pfarrer?

Wir sind gern „das Salz in der Suppe“ (vergleiche: Bibel, Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5, Vers 13). Außerdem lernen wir ja gerade aus der Bundespolitik, dass nicht die Mehrheit die Politik macht, sondern wie man sein Gewicht in eine Regierung einbringt.


Wie ist es 500 Jahre nach der Geburtsstunde der Reformation und der kirchlichen Spaltung – aus Ihrer Sicht – weltweit und in Wickede um die Ökumene bestellt? Was trennt und was verbindet die beiden Konfessionen in der heutigen Zeit? Und wie ist dies vor Ort?

Die Ökumene stagniert in Europa eher, während sie in anderen Erdteilen voranschreitet. Das ist bedenklich. In Wickede ist das ökumenische Miteinander ausgesprochen gut und vertrauensvoll.


Martin Luther hat in seinen 95 Thesen die Fehlentwicklungen in der Kirche zu seiner Zeit angeprangert. Welche Fehlentwicklungen nehmen Sie als evangelischer Pfarrer und Theologe heute in ihrer eigenen Kirche und in der katholischen Kirche wahr?

Ich glaube, dass wir uns in unsere plurale Gesellschaft (Anmerkung der Redaktion: Nebeneinander von verschiedenen Interessen und Lebensstilen) als Gesprächspartner einbringen müssen. Das heißt dialogisch (Anmerkung der Redaktion: im Gespräch) und verständlich. Glaubenssätze nur zu wiederholen, die keiner mehr versteht (und seien sie noch so richtig) lässt uns an Glaubwürdigkeit und Bedeutung verlieren.


„Einfach frei: 31. Oktober“ hieß es am vergangenen Dienstag zum „Reformationstag 2017“ als einmaligem gesetzlichen Feiertag in Nordrhein-Westfalen: Wem sind Sie für den zusätzlichen Feiertag am 31. Oktober 2017 dankbarer: den Politikern, die dies verfügt haben, oder den Arbeitgebern, die den zusätzlichen Feiertag zahlen müssen?

Ich bin vor allem Martin Luther dankbar, denn ohne seinen Thesenanschlag gäbe es diesen Tag ja überhaupt nicht.


Die Interview führte ANDREAS DUNKER für „wickede.ruhr HEIMAT ONLINE“

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Der evangelische Pfarrer Dr. Christian Klein ARCHIVFOTO: ANDREAS DUNKER
Der evangelische Pfarrer Dr. Christian Klein ARCHIVFOTO: ANDREAS DUNKER