Aufruf zum Widerstand gegen Rechtspopulismus

20. Mai 2019

WICKEDE. Nachstehend dokumentieren wir die Ansprache von Pfarrer Dr. Christian Klein im Rahmen der Gedenkfeier zu Ehren der Opfer der Möhnekatastrophe in der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1943 in der Gemeinde Wickede (Ruhr). Der traditionelle Trauermarsch mit der anschließenden Ansprache am Mahnmal für die Wassertoten fand am gestrigen Sonntag (19. Mai 2019) statt. Die Rede des evangelischen Theologen bei der Veranstaltung der Kommune geben wir nachstehend im Wortlaut wieder.

Liebe Anwesende!

In der Nacht zum 17. Mai 1943 wird ein Albtraum Realität. Dass die Möhnetalsperre als Wasserreservoir ein Kriegsziel der Alliierten ist, wusste die deutsche Seite. Dass man mit ihrer Zerstörung zugleich das Ruhrtal als industriereiche Region entscheidend treffen könnte, erhöhte noch die Wahrscheinlichkeit eines Schlages.

Trotzdem wähnte man sich in Sicherheit. Gut gesichert scheint die Sperrmauer, der Luftraum durch Flak geschützt. Trügerische Sicherheit. Flugzeuge durchdringen das schwache Abwehrfeuer, Rollbomben überwinden die Stahlnetze und reißen ein Loch in die Betonmauer. (Anmerkung der Redaktion: Tatsächlich handelt es sich um eine Bruchsteinmauer.) Wenig später schießt eine Wasserwand das Ruhrtal hinab.

Ich, liebe Wickeder, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren. Ich kann mir diese Nacht kaum vorstellen. Die Wucht der Welle, der Riss aus dem Schlaf, der Kampf ums Überleben gegen die Wassermassen, die Zerstörung, das Grauen und die Tränen am Tag danach. Ein einschneidender Tag für Wickede, der jedem damals klarmachen musste: Dieser Krieg ist ein Wahnsinn, nicht zu gewinnen und durch nichts zu rechtfertigen.

Bis heute erinnern wir an diesen Tag. An die Zerstörung, das Grauen, die Tränen, den Schmerz. Und wir versuchen die Konsequenzen und Lehren aus diesem Ereignis wach zu halten: Wie Warnung vor dem braunen Gedankengut, die Mahnung, sich weder von Großmachtphantasien noch von der Faszination der Waffen blenden zu lassen, die Anstrengung, hinter dieser Zahl – 117 (Tote alleine in Wickede, Anm. d. Red.) – nicht die Einzelschicksale zu vergessen.

Nun leben wir in einer Zeit, in der wieder genau das versucht wird. Wenn Politiker ernsthaft behaupten, die Nazizeit wäre nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte, dann relativiert das nicht nur Geschichte, sondern verhöhnt die Opfer, die überall auf der Welt als Folge des Zweiten Weltkrieges zu beklagen sind. Hier gilt es wachsam und standhaft zu bleiben. Hier gilt es aufzustehen und Flagge – beziehungsweise Fahne – zu zeigen. Hier gilt es, am Jahrestag der Möhnekatastrophe sich zu erinnern und zu differenzieren. Denn Krieg, Grauen und Zerstörung fängt genau damit an, dass man „alternative Fakten beschwört“, Wahrheit relativiert und aus anderen Menschen „die da“, „die anderen“, „den Feind“ macht. Keiner schießt auf Wehrlose, wirft Bomben auf Kinder oder schickt die eigenen Volksgenossen ins Gas – wenn man sie vorher nicht zum Feind, zum Untermenschen, zum Bösen gemacht hat, den es zu vernichten gilt.

Liebe Anwesende, ich spreche jetzt einmal Sie alle hier ganz konkret an: Es ist unser aller Aufgabe, Tag für Tag, an diesem Punkt Widerstand zu leisten. Den Demagogen und Populisten, die jetzt wieder Hochkonjunktur haben, den Pöblern und Rassisten in den Stadien und an Stammtischen und unseren eigenem, viel zu einfachen Denken.

„Die Engländer feiern bis heute diesen Tag als großen Sieg“ sagte mir letztlich ein Wickeder mit Bitterkeit in der Stimme, als es um den 17. Mai 1943 ging. Nein, tun sie nicht. Weder feiern die Engländer dies. Noch „die in England“. Sondern einige in England feiern bis heute diesen Tag als Sieg. Genau wie es bis heute in Deutschland Einige gibt, die die Verantwortung Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg verleugnen und die Niederlage im Krieg am liebsten ungeschehen machen wollen.

„Die Engländer“, „die Flüchtlinge“, „die in Brüssel“, die gibt es nicht. Es gibt 66 Millionen Menschen in Großbritannien, 1,2 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, 66 Millionen weltweit. Und in Brüssel sitzen 751 Parlamentarier. Und wer das ist, das haben wir in der nächsten Woche selbst in der Hand.

Noch ein Gedanke dazu zum Schluss: Sie alle kennen das berühmte Wort Jesu: „Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch deine andere Backe hin!“ Wir wissen alle, wie schwer das ist, das im Alltag umzusetzen. Aber ist Ihnen die unmittelbare Voraussetzung für ein solches Verhalten aufgefallen? Was Jesus bei diesem Wort sozusagen stillschweigend voraussetzt? Dass man dem anderen so nahe sein muss, dass er einen auch erreichen kann! Man muss ihm sozusagen Aug' in Aug' gegenüberstehen. Dann wird nämlich der Feind zum „jemand“ wie Jesus hier richtig sagt. Und nur dann können wir ihm verzeihen.

Verlieren wir diesen Blick nicht und lassen wir ihn uns auch nicht von anderen ausreden.

Wir sind es den 117 Opfern vom 17. Mai 1943 schuldig.

Ich danke Ihnen.

© Pfarrer Dr. Christian Klein, Wickede, 19. Mai 2019

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Der evangelische Pfarrer Dr. Christian Klein während seiner Ansprache an die Teilnehmer des Trauermarsches und der Gedenkfeier am Mahnmal zu Ehren der Opfer der Möhnekatastrophe am 17. Mai 1943 FOTO: ANDREAS DUNKER
Der evangelische Pfarrer Dr. Christian Klein während seiner Ansprache an die Teilnehmer des Trauermarsches und der Gedenkfeier am Mahnmal zu Ehren der Opfer der Möhnekatastrophe am 17. Mai 1943 FOTO: ANDREAS DUNKER